Tragödie mit Gesang und Tanz

Die Geschichte des Staatlichen Jüdischen Theaters (GOSET) in Moskau 1918-1949
Vortrag mit Bild- und Original-Tondokumenten von Brigitte van Kann
Theater & szenische Lesungen
Donnerstag, 20. Februar 202519:00 - 21:30
Warburg-Haus, Heilwigstraße 116, U Kellinghusenstraße
mit halbstündiger Pause
Wir bitten um Anmeldung unter: birnbaum-blitspost@web.de

1918 als Schauspielschule in Petrograd gegründet, entstand 1921 in Moskau zum ersten Mal in der Geschichte des Judentums ein jüdisches Staatstheater, das GOSET (Gosudarstvennyj Evrejskij Teatr). Es war ein echtes Kind der Revolution, die den russischen Juden per Dekret die ersehnte Gleichberechtigung gebracht hatte. Gespielt wurde in der Sprache der „werktätigen jüdischen Massen“: Junge jiddischsprachige Autoren schrieben für das GOSET, jiddischsprachige Schauspieler erhielten hier zum ersten Mal eine professionelle Ausbildung. Marc Chagall gestaltete die Eröffnungspremiere am 1. Januar 1921. Seine Wandbilder für den kleinen Zuschauerraum wurden nach der Schließung des Theaters gerettet und gehören zu den beeindruckendsten Werken seiner „russischen“ Jahre. Das junge Theater erlebte einen glanzvollen Aufstieg. Seine Produktionen fanden international Beachtung, nicht zuletzt dank seines charismatischen Leiters Solomon Michoels, dessen Popularität weit über das Theater hinausreichte. Als Vorsitzender des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK) wurde er 1943 von Stalin in die USA entsandt, um für die Eröffnung einer zweiten Front gegen Hitlerdeutschland zu werben. Genau 30 Jahre lang war das GOSET Kristallisationspunkt jüdischer Kultur und jüdischen Selbstverständnisses unter dem Sowjetstern. Wie keine andere Institution spiegelt es das Schicksal der Juden in der Sowjetunion: Ende 1949 wurde es auf dem Höhepunkt der antisemitischen Kampagne gegen die „heimatlosen Kosmopoliten“ geschlossen, nachdem Solomon Michoels im Januar 1948 in einem fingierten Verkehrsunfall ermordet worden war. Alle Versuche, das jiddischsprachige Theater in Russland zu reanimieren, erreichten nie wieder das Niveau des GOSET. Der Vortrag über Aufstieg und Untergang des GOSET stellt das Theater in den Kontext der Geschichte der Juden in der Sowjetunion und geht den ästhetischen und ideologischen Kraftfeldern nach, in denen es seine Existenz definierte.

Begleitet wird der Vortrag von umfangreichem Bild- und Audiomaterial, darunter Original-Tondokumente aus Inszenierungen des GOSET, Musik/Dialoge in jiddischer Sprache, u. a. von „Tewje, der Milchmann (Anatewka).

Bildquelle: ГБУК Города Москвы "Музейное Объединение "Музей Москвы"

Szene aus Tewje, der Milchmann, 1938

Brigitte van Kann, geb. 1953, studierte Germanistik und Slawistik. Seit 1985 freiberufliche Tätigkeit: Übersetzungen, u. a. für die Friedenauer Presse, sowie Dolmetschen, zuletzt für die Wiener Staatsoper; Rezensionen für Deutschlandfunk und WDR; Beiträge für die FAZ und Spiegel Literatur Special; Vorträge und Rundfunk-Features u.a. über Wassili Grossman und seinen Roman "Leben und Schicksal", Marc Chagall und die Shtetl-Literatur. Themenschwerpunkte: russische Kultur und Geschichte der russischen Juden.